Der FC Barcelona Irans

Warum die Fans des FC Tractor Täbris, des selbsterklärten „beliebtesten Teams Asiens“, überzeugt sind, dass ihr Klub nie Meister werden darf.
Von Behrang Samsami, Berlin

Iran ist ein Vielvölkerstaat, auch im Fußball. Der FC Tractor Sazi aus Täbris stellt für die Regierung in Teheran eine Bedrohung dar: Der Klub ist Sprachrohr für die diskriminierten turksprachigen Menschen im Land geworden.

Stop racism against Turks“ – Der Slogan, in schwarzer Schrift auf weißem Grund gedruckt und in die Höhe gehalten, ist deutlich. Der Ort, an dem das „Ende des Rassismus gegen Türken“ gefordert wird: das Sahand-Stadion in Täbris, Islamische Republik Iran. Fans des Erstligaklubs FC Tractor Sazi im mehrheitlich türkisch geprägten Nordwesten des Landes halten am 31. Januar 2020 ihren Protest in die Kameras von Mobiltelefonen. Anlass ist das Spiel fünf Tage zuvor, am 26. Januar 2020 in Teheran gegen Meister Persepolis. Es ist wie immer: Die Tractor-Fans bekommen Beleidigungen zu hören. „Esel, Esel“ rufen Persepolis-Fans in Richtung der aus Täbris kommenden Gäste. In den sozialen Netzwerken macht ein Video die Runde, in dem vier junge Männer einen Spielzeug-Esel, auf dem Kinder schaukeln sollen, vor das Asadi-Stadion ziehen, treten und Tractor-Fans schmähen. Nach dem Spiel veröffentlichen Tractor-Fans auf Twitter Videoaufnahmen, die die antitürkischen Aussprüche belegen, werfen dem iranischen Fußballverband vor, sie nicht zu bestrafen, und fordern den Internationalen Fußball-Verband Fifa und die asiatische AFC auf, dem Rassismus ein Ende zu bereiten.

In iranischen Fußballstadien zeigt sich, wie stark Politik, Kultur und Sport im Land verflochten sind, hier brechen sich die sozialen Konflikte Bahn. Für Tractor-Anhänger sind die Tribünen die Orte, an denen sie in großer Zahl ihre Kritik an den Verhältnissen im Land offen artikulieren. Für Irans Regierung stellt Tractor Sazi deshalb eine massive Bedrohung und Herausforderung dar. Der Klub ist identitätsstiftendes Symbol für die diskriminierten turksprachigen Menschen im Land geworden ist – quasi ihr Nationalteam. Kein anderer Klub hat so viele Fans, die stets in großer Zahl auch mit zu Auswärtsspielen reisen. Offizielle Zahlen sind kaum aufzutreiben, aber Tractor hat unbestritten den höchsten Zuschauerschnitt im Land, zählt neben Persepolis und Esteghlal aus Teheran sowie Sepahan aus Isfahan zu den großen Teams, wurde 2012, 2013 und 2015 Zweiter in der Persian Gulf Pro League. Auf Twitter nennt sich der Klub das „populärste Team in Asien“.

Kapitän: Der einstige U-21-Europameister Ashkan Dejagah spielt für Tractor.

Kapitän: Der einstige U-21-Europameister Ashkan Dejagah spielt für Tractor. Picture-Alliance

1970 von einem staatlichen Traktorenbauunternehmen gegründet, gehörte der Klub ab 2011 mehrheitlich der Kowsar-Stiftung der paramilitärischen Revolutionsgarden. 2018 kaufte Mohammed Reza Zonuzi, Geschäftsmann aus Iranisch-Aserbaidschan, der unter Präsident Ahmadineschad wohlhabend geworden ist, den Klub. Zonuzi gilt als heimatverbunden. 2010 gründete er in Täbris, mit 1,6 Millionen Einwohnern politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der in Iran lebenden Türken, die Fluglinie ATA Airlines – Ata ist türkisch für Vater. Auf die Tractor-Fans geht Zonuzi zu – mit günstigen Tickets. 10 000 Toman kostet eine Karte, circa 60 bis 70 Cent. In den vergangenen Jahren investierte Tractor Sazi massiv in den Kader. Zu den namhaften, wenn auch in die Jahre gekommenen Profis gehören Ehsan Hajsafi, der von Olympiakos Piräus verpflichtet wurde, und Kapitän Massud Schodschaei, der von AEK Athen kam und Kapitän der iranischen Nationalmannschaft bei der WM 2018 war. Auch ein Berliner spielt für Tractor, sogar als Kapitän: Ashkan Dejagah, U-21-Europameister von 2009 im DFB-Team mit Manuel Neuer und Mesut Özil.

 

Doch iranischer Meister war der Klub aus Täbris in 50 Jahren nie. Seine Fans sind überzeugt, dass das kein Zufall ist. „Ich bin 60 Jahre alt, und ich lebe mit Tractor“, sagt Karim Hosseinipour, der aus Täbris stammt, in Wirklichkeit aber einen anderen Namen hat. „Der Klub ist unsere Stimme in Iran. Wenn Tractor-Anhänger ihre Slogans rufen, stellt das staatliche Fernsehen den Ton leiser, damit die Zuschauer sie nicht verstehen. Der iranische Verband dreht das Ganze so, kauft etwa Schiedsrichter, damit alles zum Vorteil von Persepolis und Esteghlal ist.“ Auf die Frage, wie er dazu komme, sagt Hosseinipour: „Es gibt chauvinistische Tendenzen in den Reihen der Regierung. Es herrscht schlicht Angst vor den Türken.“ Viele Fans sind überzeugt, dass die Machthaber es nicht zuließen, dass Tractor Meister werde. „Aber das kümmert uns nicht. Das Team soll spielen, und wir wollen unsere Slogans sagen und wollen, dass die Menschen sie hören.“

Der Skandal von 2015

Den Verdacht, dass Regierung und Verband ihre Finger im Spiel haben, damit Tractor nicht Meister wird, nährt das Geschehen am 15. Mai 2015. Tractor spielte am letzten Spieltag der Saison gegen Naft Teheran und sah sich beim Stand von 3:3 als Meister. Tractor spielte darauf, das Resultat zu halten. Eine offizielle Durchsage über die Stadionlautsprecher gegen Spielende hatte verkündet, das Match des Konkurrenten Sepahan habe unentschieden geendet. Der Naft-Präsident berichtete anschließend, die Übertragung des Spiels von Sepahan im Fernsehen und Radio in der Kabine sei ausgefallen, die Handys der Betreuer hätten keinen Empfang mehr gehabt. Im Stadion feierten die Tractor-Fans die erste Meisterschaft. Doch tatsächlich hatte Sepahan sein Spiel 2:0 gewonnen, war Meister. Mit dem Unentschieden war Tractor nur Zweiter. Die feiernden Fans hörten erst nach dem Abpfiff davon. Die Stimmung kippte. Sie protestierten lautstark, im Stadion, auf den Straßen.

Wenn Fans von „Tiraxtur“, wie sie Tractor nennen, Banner hochhalten, auf denen sie Unterricht in ihrer Muttersprache, dem Aserbaidschanischen beziehungsweise dem Türkischen, wie sie die Sprache selbst nennen, die Rettung des Urmia-Sees vor dem Austrocknen und ein Ende des persischen Rassismus fordern, rühren sie an Themen, die für die Mächtigen in Teheran von höchster Brisanz sind. Der Klub und die Fans stellen, wie der Soziologe Vahid Rashidi im „International Journal of Sports and Society“ vergangenes Jahr konstatierte, aus der Peripherie heraus die zentralistische Machtstruktur Irans in Frage, die Dominanz der persischen Amtssprache und Kultur, die damit einhergehende Unterdrückung der nichtpersischen Ethnien, ihrer Sprachen und Kulturen – obwohl ihre Pflege in der Verfassung freigestellt ist. Rashidi zieht bei Tractor den Vergleich mit dem FC Barcelona, der für seine Fans mehr als ein Fußballklub sei, weil er – in Zeiten der Marginalisierung durch das Zentrum Madrid – auch symbolisch die katalanische Identität repräsentierte.

In der Islamischen Republik ist die Angst der Geistlichen und der Revolutionswächter nachvollziehbar: 40 Prozent der Bevölkerung in Iran sind turksprachig. Die Zahl nannte Außenminister Ali Akbar Salehi Anfang 2012 bei einem Staatsbesuch in der Türkei. Sollte Tractor Meister werden, könnte das Emotionen, gar Forderungen auslösen, deren die Regierung nicht mehr Herr werden könnte. Darum reagieren Führung und persische Nationalisten stets gereizt, sprechen von einem Angriff auf die nationale Sicherheit und Separatismus, wenn Bürgerinnen und Bürger die Pflege ihrer Muttersprache, mehr Autonomie für ihre Provinzen, mehr finanzielle Unterstützung für die nichtpersischsprachigen Regionen einfordern.

Nationalist: Resa Schah arbeitete eng mit Hitler-Deutschland zusammen.

Nationalist: Resa Schah arbeitete eng mit Hitler-Deutschland zusammen. Picture-Alliance

„Tractor-Fans kommen aus ganz Iranisch-Aserbaidschan zu den Spielen“, sagt Hosseinipour. „Aber die Regierung setzt sie unter Druck.“ So dürften Fans von außerhalb an Spieltagen nicht nach Täbris einfahren, sondern würden zur Rückfahrt gedrängt. „Wenn Tractor zu Hause gegen Persepolis gewinnt, ist Täbris in den Händen der Tractor-Fans. Es wird zu türkischer Musik getanzt.“ Dann sei die Stadt wie im Ausnahmezustand – voller Zivilpolizisten und Spezialgardisten. „Aus allen Teilen Irans werden Spezialgardisten gebracht. Als wäre ein Putsch geschehen, so voll ist dann die Stadt mit Polizei.“ Das Vorgehen der Machthaber in Teheran gegen nichtpersische Ethnien hat Kontinuität seit den Zeiten vor der Islamischen Revolution. Neben Persern leben Türken, Araber, Kurden, Belutschen und andere Ethnien im Land. Die Assimilationspolitik zielt darauf, dass alle nur noch Persisch sprechen. Sosehr die Islamische Republik die Pahlewi-Dynastie anprangert, die sie 1979 beerbte, setzt sie doch deren rassistische Politik fort. Nach dem Machtantritt von Reza Schah 1925, der das antike, vorislamische Persien zum Vorbild nahm, um Iran eine zentralistische, persische Herrschaft und Identität zu oktroyieren, wurde gelehrt, dass Perser, ihre Sprache und Kultur höherwertiger als jene der Türken, Araber und Mongolen seien. Ab 1933 arbeitete der Schah eng mit Hitler-Deutschland zusammen. Die Ideologie der Nationalsozialisten wurde über Zeitschriften und Filme massenweise in Iran verbreitet. Um die „arische“ Herkunft der Perser zu betonen, ließ der Schah 1934/35 zudem die offizielle Bezeichnung „Persien“ in „Iran“, deutsch „Land der Arier“, ändern. Wie wirkmächtig die Ideologie in einem Teil der persischen Bevölkerung nach wie vor ist, zeigte sich 2004, als das DFB-Team zu einem Freundschaftsspiel nach Teheran kam. Als die deutsche Hymne gespielt wurde, erhob ein Teil der heimischen Fans den rechten Arm. „Zum Glück nur kurz zu sehen, einige perverse Auswüchse“, kommentierte ZDF-Reporter Béla Réthy die Szene. „Da standen einige, sogar ziemlich viele, und zeigten den Hitler-Gruß.“

Dass die von Islamisten und persischen Nationalisten dominierte Regierung Irans eine diskriminierende Politik betreibt, belegen weitere Vorfälle aus der jüngsten Vergangenheit. Eltern werden daran gehindert, ihren Kindern türkische Namen zu geben. In türkisch geprägten Gebieten Irans soll in Behörden und Schulen ausschließlich Persisch gesprochen werden. In einem aktuellen Fall aus Täbris wurde auch Feuerwehrleuten verboten, sich auf Türkisch unterhalten. Eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Persischen spielt die 1935 unter Reza Schah gegründete Akademie für persische Sprache und Literatur, deren heutiger Präsident Gholam-Ali Haddad-Adel ist – ein Vertrauter von Revolutionsführer Ali Chamenei, dessen Sohn Mojtaba mit einer Tochter Haddad-Adels verheiratet ist.

„Verschwindet, ihr Esel!“

Iranischer Rekordmeister: Die Fans des FC Persepolis dürfen auch in dieser Spielzeit wieder den TItelgewinn bejubeln.

Iranischer Rekordmeister: Die Fans des FC Persepolis dürfen auch in dieser Spielzeit wieder den TItelgewinn bejubeln. Picture-Alliance

Und so beklagen die Fans des FC Tractor Sazi neben der sportlichen Benachteiligung seit Jahren den offenen Rassismus auf den Tribünen. 2010 schrieben über 40 Gelehrte, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten einen offenen Brief an den damaligen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter. Tractor-Fans seien bei Spielen in Buschehr, Isfahan, Kerman und Teheran als Esel bezeichnet worden. Im Juli 2010 sei beim im Fernsehen übertragenen Match zwischen Tractor und Persepolis „Verschwindet, ihr Esel!“, „Von den Eseln ist nichts zu hören“ und „Die türkischen Esel sind still“ in rhythmischer Form zu hören gewesen. Im Handbuch über diskriminierende Praktiken im Weltfußball, im Jahr 2017 von der Dachorganisation Football Against Racism in Europe (Fare) mit 130 Mitgliedern – NGOs, LGBT-Gruppen und Gruppen ethnischer Minderheiten – publiziert, werden ebendiese Gesänge und das Wort „Chaar“, persisch für Esel, als Bezeichnung aufgeführt, die „in Kombination mit dem Wort ,türkisch‘ gegenüber Azeri-Fans und in Anti-Azeri-Gesängen verwendet“ werde. Tractor-Fans lassen sich Angriffe nicht gefallen: „Tebriz Baki Ankara – Biz Hara – Farslar Hara“, sinngemäß „Täbris, Baku, Ankara – was haben wir mit den Persern zu tun?“, riefen sie im Januar 2018 beim Spiel gegen Esteghlal Teheran provokant. Auch hier misst der iranische Fußballverband mit zweierlei Maß. Ende 2016 drohte er Tractor Sanktionen an, sollten seine Fans weiterhin provokant rufen, dass der Persische Golf „Arabischer Golf“ heiße. Folgenlos hingegen blieben die antitürkischen Slogans der persischen Anhänger. Erfolge und starke Präsenz Tractors forderten Diskurse über den iranisch-persischen Nationalismus heraus und über Vorstellungen von Teherans Übermacht und Dominanz über Regionen wie Aserbaidschan, schreibt der Soziologe Rashidi. Die rassistischen Slogans gegen die Tractor-Fans deutet er als Unmut der Perser über Iranisch-Aserbaidschans quasi gegenhegemoniale Bewegung. Tractor sei eine Herausforderung der ethnozentrischen Annäherung der Perser an den Sport und an den Mythos von Persepolis und Esteghlal als den populärsten Teams in Iran. Tractor und seine Fans erfahren deshalb so harsche Reaktionen seitens der Führung in Teheran, des iranischen Fußballverbandes und persischer Fans, weil sie die Ungleichbehandlung der Ethnien in Iran regelmäßig sichtbar machen und die konfliktreiche Machtkonstellation zwischen Teheran als Zentrum und den Regionen als Peripherie in Frage stellen.

Will die Regierung wirklich Frieden im Verhältnis der Ethnien zueinander, muss sie sich ernsthaft mit dem seit hundert Jahren strukturell bedingten Rassismus auseinandersetzen, ihre Assimilationspolitik beenden, den Provinzen mehr Autonomie und Geld zum Reinvestieren gewähren – und es auch aushalten, wenn einmal ein nichtpersischer Klub iranischer Fußballmeister wird. Nach der Aufregung rund um das jüngste Aufeinandertreffen zwischen Tractor Sazi und Persepolis im Januar kündigte der iranische Verband allerdings eine andere, typischere Lösung an: In der kommenden Saison sollen gar keine Zuschauer bei diesen Partien zugelassen sein. Die jungen Männer, die im Januar den Spielzeug-Esel getreten hatten, wurden verhaftet. Die iranische Cyber-Polizeibehörde Fata verbreitete ein Video, in dem sie auf dem Revier für ihr Verhalten um Entschuldigung bitten. Als die „Persian Gulf Pro League“ den Spielbetrieb jüngst trotz gravierender Corona-Krise im Land wiederaufnahm, blieb Ashkan Dejagah in Deutschland. Vier Spieltage vor Saisonende ist Tractor Sazi Dritter. Persepolis Teheran steht seit Donnerstag als Meister fest.

Der Autor, geboren in Iran, ist promovierter Germanist, freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

 

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